Äthiopien: Es ist möglich

Die Veränderung ist jetzt sichtbar. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ihr uns das erste Mal besucht habt, um das Friedensradio-Projekt zu starten.

Ich war damals sehr beunruhigt, dass der frische Konflikt und der Hass zwischen unseren Leuten aus Oromiya und den Leuten aus der Südregion der Beginn von neuer Gewalt sein würde. Jetzt aber haben wir Frieden.

Auch ich erinnere mich noch gut an diese erste Begegnung Anfang 2012, auf die der Älteste Gemechu Bedecha im Frühsommer 2013 zurückblickt. Meine äthiopischen Arbeitskollegen und ich besuchten zum ersten Mal ein kleines Dorf, ca. 30 Minuten Fahrzeit von meinem Projektstandort Hawassa im Süden Äthiopiens, um der Dorfbevölkerung das Friedensradio-Projekt vorzustellen. Wir saßen im Schatten eines grossen Baumes, in der Nähe des Hawassa-Sees, neben einem kleinen einfachen Verwaltungsgebäude im Bau. Ein junger Mann erzählte mit bewegter Stimme, dass vor kurzem sein Bruder getötet worden war. "Er ist geschlachtet worden wie eine Ziege".

Mein äthiopischer Projektpartner Kussia Bekele war wie ich geschockt über die Brutalität dieses Mordes. Kussia erklärte mir schnell in wenigen Worten die Geschichte des mehrjährigen, immer wieder aufflammenden Konfliktes zwischen zwei Ethnien an der Grenze der Regionen Oromiya und Southern Nations Nationalities and Peoples (SNNP) im Süden Äthiopiens. Am Ende des Besuches fragten wir die Anwesenden, ob sie Interesse hätten, am Friedensradio-Projekt mitzumachen. Hier hört sich einmal wöchentlich eine Gruppe eine Radiosendung zum Thema Frieden und gewaltfreie Konfliktlösung an, die vom Projekt produziert und über den öffentlichen Radiosender ausgestrahlt wird. Im Anschluss an die Sendung wird gemeinsam das Gehörte in einer Diskussion vertieft. Die Ältesten – unter ihnen Gemechu Bedecha, der mir mit seinem vom Leben gezeichneten Gesicht und seinen mit Sorgfalt gewählten Worten gleich aufgefallen war – waren skeptisch, ob dieses Projekt angesichts des aktuell gerade wieder aufgeflammten Konfliktes hier Sinn machen würde, wollten aber einen Versuch wagen. Sie weigerten sich allerdings, sich einmal im Monat gemeinsam mit der Konfliktpartei die Sendung anzuhören, wie das in anderen Gruppen üblich war, wo ehemalige oder aktuelle Konfliktparteien sich zum gemeinsamen Radiohören trafen. 

Und so wurde Gemechu Bedecha‘s Dorf und das ihrer "Feinde" Teil des Friedensradio-Projektes und wir besuchten beide Dörfer regelmässig, aber immer getrennt.

Im Februar 2013 bei einem Monitoring-Besuch in beiden Dörfern erklärten – für mich völlig unerwartet – mehrere Personen, dass sie den Wunsch hätten, sich zu versöhnen und Frieden zu machen. Sie wollten die Radiosendung gemeinsam hören und baten unser Projekt dafür um Unterstützung.

Wieder zurück im Büro in Hawassa erzählte ich Kussia von diesem bewegenden Moment. 

Gemeinsam mit den anderen Projektpartnern starteten wir einen Friedens- und Versöhnungsprozess auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Veranstaltungen, an denen Gemechu Bedecha auch teilnahm. Unter anderem konnten Schlüsselpersonen aus den beiden Dörfern gemeinsam ein Training in Konfliktbearbeitung besuchen. Zudem organisierten wir einen Besuch aufs Land zu ehemaligen Konfliktparteien, die ihren vergleichbaren, jahrelangen Konflikt friedlich beendet hatten.

Es war ein weiterer, sehr bewegender Moment, im April unsere Konfliktparteien gemeinsam im Bus sitzen zu sehen, der die Fahnen Äthiopiens, von SNNP und Oromiya trug. Wir waren alle tief beeindruckt von den Geschichten der ehemaligen Konfliktparteien, die wir vor Ort hörten. Abends saßen wir alle noch lange zusammen, ohne Strom im Dunkeln und diskutierten das Gehörte.

Die Menschen waren müde vom jahrelangen Konflikt, von der Gewalt und dem Hass. Sie wollten endlich in Frieden leben. Ein alter Mann erzählte uns, dass er neben seinem leiblichen Sohn einen Jungen der anderen Ethnie bei sich aufgezogen hatte. »Wie wenn er mein eigener Sohn wäre« – und der dann später seinen leiblichen Sohn tötete. Nichtsdestotrotz unterstützte dieser alte Mann bis heute die Familie des »Mörders«, weil er ja zur Familie gehört. Er meinte, man muss den Hass überwinden und verzeihen.

"Unsere" Ältesten schämten sich, dass sie es bisher nicht geschafft hatten sich zu versöhnen. Und das, obwohl sie doch aus der Stadt kämen und gebildet seien. Feierlich versprachen sie am zweiten Besuchstag vor Zeugen, dass sie sich jetzt für Versöhnung und Frieden einsetzen würden.

Und so kam es, dass ich im Mai 2013, einen Monat vor meiner definitiven Ausreise aus Äthiopien an der traditionellen Versöhnungszeremonie teilnehmen durfte. Diese Zeremonie beinhaltet viele Rituale, durchgeführt von den Ältesten der beiden Konfliktparteien. Tief ergriffen war ich, als die Ältesten auf dem Höhepunkt der Zeremonie zwei Ziegen schlachteten und deren Blut über die Opfer bzw. Angehörigen der toten Opfer des Konfliktes mit einem einfachen Pflanzenwedel versprengten. Anschließend wurde gestenreich um Vergebung gebeten. Berührt hat mich am Ende der Zeremonie die ehemaligen Feinde Hand in Hand zu sehen. Waren die Gesichter der Teilnehmenden am Anfang des Anlasses angespannt, so waren sie jetzt entspannt und man hörte sogar ab und zu ein Lachen.

Simone Notz, Beraterin und Trainerin für Konfliktbearbeitung
und Friedensförderung, ZFD-Fachkraft

Weitere Informationen

Der ZFD arbeitet seit 2006 in Äthiopien. Er unterstützt die Bemühungen um gewaltfreie Konfliktbearbeitung auf allen Ebenen: lokal, regional und national und stärkt deren Verbindung durch die Entwicklung und Umsetzung gemeinsamer Strategien.

Das Friedensradio sensibilisiert Menschen insbesondere in lokalen Gemeinden für gewaltfreie Konfliktlösungen.

Die Radio-Sendungen zeigen anhand konkreter Beispiele, wie Menschen Konflikte ohne Gewalt z. B. durch Gespräche lösen können. Ein Schlüsselmoment, der motiviert: wenn es andere geschafft haben, Frieden zu machen und sich zu versöhnen, dann schaffen wir das auch! Veränderung mit gewaltfreien Mitteln ist machbar.