Palästina: Musik gegen Mauern

Bevor ich das erste Mal im Shuafat Flüchtlingslager in Jerusalem war, hatte eine befreundete Musikband mir diesen Ort als Ghetto beschrieben.

Sie selbst sind dort aufgewachsen und machten bis zu diesem Zeitpunkt noch knallharte Rapmusik. Ich hielt ihre Beschreibungen für maßlos überzogen, habe sie ausgelacht und sie ständig damit aufgezogen, dass sie damit ihr Gangsta-Rap-Image aufbauschen wollten. Ein Jahr später fing ich als Friedensfachkraft in Jerusalem an und besuchte meine Freunde im Shuafat Camp. Schon beim Passieren des Checkpoints am Eingang verschlug es mir fast die Sprache und als ich dann innerhalb der Mauer im Camp war, fiel mir nichts anderes ein, als mich bei den Jungs zu entschuldigen. Für all diese wirklich dummen Sprüche wie "ihr möchte-gern-Ghetto-Kids" und dergleichen. Solch einen Ort hatte ich vorher noch nie gesehen: Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich ein Teil von Jerusalem sein sollte. Eng. Dunkel. Dreckig. Eingemauert. Ghettoisiert. Hierhin kommt man nicht freiwillig und Fremde sind auch nicht wirklich willkommen, sondern eher suspekt. Lieber Fadi, lieber Mohammad, es tut mir leid! Es tut mir leid, dass ich solch ein ignoranter Vollpfosten war.

Die beiden zeigten mir, wo sie ihre Musik produzierten und stellten mir den Leiter des Palestinian Child Centers vor: Khaled Al-Sheikh-Ali. Sein Ziel ist es, für die Kinder des Camps einen Raum innerhalb des Camps zu schaffen, der sie vergessen lässt, dass sie sich im Camp befinden. "Einen Ort, an dem sie einfach nur spielen können wie alle anderen Kinder auf der Welt auch." Abu Al-Sheikh, wie Khaled auch genannt wird, arbeitet auch mit Musik. Irgendwie zumindest.

Er selbst spielt die ›Zauberflöte‹, wie er oft und gerne erzählt. Damit meint er, dass er Kinder und Jugendliche begeistern kann. Er versteht sie und versucht ihnen genau das zu bieten, was sie wollen und nicht das, was Erwachsene denken, was gut für Kinder ist. Ich war sofort fasziniert und besuchte das Zentrum in meiner Freizeit nun so oft ich konnte. "Hier müssen wir was tun …".

Ein Jahr später arbeiteten wir gemeinsam an einem »Testballon«: Eine Workshop-Reihe, bei der 50 Kinder und Jugendliche in alternativen und kreativen Ausdrucksformen trainiert wurden. Es standen Disziplinen wie DJing, Rap, Junk-Percussion, Gesang und Dabke, ein palästinensischer Folkloretanz, auf dem Stundenplan. Die Ergebnisse wurden am 20.05.2014 auf einer Bühne mit anderen Teilnehmenden und bekannten Künstlern aus ganz Palästina und Deutschland präsentiert. Aus Deutschland kam sogar die RAP-Größe Marteria. Mehr als 1 500 Besucherinnen und Besucher hatte das Festival. Kinder, Männer, Frauen, auch Sheikhs waren da – und sie waren genauso beeindruckt.

Alle konnten für einen Abend dem Alltag im Camp entfliehen. 

Es kamen auch viele Menschen von außerhalb des Camps. Das war neu. Neu für die Campbewohnerinnen und -bewohner und neu für die Gäste. Die Menschen aus dem Shuafat Camp hatten jetzt die Gelegenheit zu zeigen, wer sie sind: Nämlich keine Ghetto-Kids oder gar Terroristen. Nein, sie standen auf der Bühne und waren Gastgeber. Sie feierten gemeinsam, Jungs und Mädels, Flüchtlinge und Internationals.

Das Shuafat Camp fand auf einmal statt, auch außerhalb des Camps. Frieden – das ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Und Friedensarbeit muss darauf vorbereiten, diesen Raum zu betreten, in dem Selbstvertrauen, gegenseitiger Respekt und Anerkennung gelebt werden. Das zu lernen geht auch über Musik. Abu Al-Sheikh führt das Konzept weiter fort als Leiter von ›Palestinian Child Center Shuafat‹. Er beherrscht mittlerweile weitere Melodien auf seiner ›Zauberflöte‹, zu deren Klängen auch die Erwachsenen lauschen.

Kayed Sagalla,
Kulturpädagoge und Veranstaltungskaufmann ZFD-Fachkraft

Weitere Informationen

Der ZFD arbeitet seit 2003 in den Palästinensischen Gebieten, wo die Auswirkungen der israelischen Besatzung die Grundursache vieler psychosozialer Probleme sind. Er stärkt zivilgesellschaftliche Akteure, die psychosoziale Beratung, Unterstützung und Traumatherapien anbieten und sichere Räume schaffen, um die Resilienz und Selbstbestimmung insbesondere von Kindern und Jugendlichen fördern.

Seit 2013 thematisiert und bearbeitet der ZFD die auf politischer, geographischer und sozialer Ebene stattfindende Fragmentierung Palästinas kreativ durch Kunst, Kultur und Sport.