"Kleidung sozial und ökologisch produzieren"

Boss ärgere dich nicht – Frauen erringen Rechte in Bangladesch

Mit elf Jahren schuftete sie in einer Textilfabrik. Heute schaut Nazma Akter den Bossen auf die Finger. Ein lustiges Spiel in Frauen-Treffs macht Arbeiterinnen klüger und mutiger. Manchmal steht nun der Mann am Herd.

In Bangladeschs Bekleidungsindustrie wächst die Macht der Frauen. Vieles liegt noch im Argen, wie der Fabrikbrand mit 112 Toten jüngst deutlich machte. Doch die Arbeitsbedingungen werden besser, die kargen Löhne steigen. In Frauen-Cafés tanken die Betroffenen Kraft für Women Power und beruflichen Aufstieg.

„Unser Land braucht ein paar gute Nachrichten“, sagt Nazma Akter. Englisch und Computer-Kenntnisse hat sich die 39-Jährige teils selber angeeignet. So kann sie im Internet die internationalen Schlagzeilen über ihr Land verfolgen: über das tödliche Feuer in einer Textilfabrik im November, Naturkatastrophen, Fährunglücke, Armut.

Akter ist Gründerin der Awaj Foundation. Die Nichtregierungs-Organisation (NRO) kümmert sich um Beratung, Training und Bildung der Arbeiterinnen. Die meisten wohnen in Slums unweit der Fabriken. Viele können kaum schreiben und lesen. Die NRO hat auch Anwälte und Rechtsberatung, kämpft gegen ungerechtfertigte Kündigungen und Diskriminierung am Arbeitsplatz.

Im ersten Stock eines schlichten Gebäudes im Stadtteil Mirpur der Hauptstadt Dhaka ist einer der Treffs. Frauen sitzen in kleinen Gruppen auf Tüchern und Bast. Die Arbeiterinnen lachen, fragen, antworten und lernen. „Parcheesi“ heißt in ihrer Sprache das Spiel, „Mensch ärgere Dich nicht“ in Deutsch. Es ist eines der beliebtesten Spiele im muslimischen Bangladesch, das so groß wie Süddeutschland ist, aber 160 Millionen Einwohner hat.

Die Frauen in den „Cafés“ spielen bei Tee, Wasser und kleinen Snacks eine Variante. Wer auf ein Feld mit Fragezeichen rückt, sollte sich im Arbeitsrecht ein bisschen auskennen. Denn bei falscher Antwort muss er einmal beim Würfeln aussetzen. Eine der Spielleiterinnen liest von einer Karte ab: „Wie viele Monate Mutterschutz stehen einer Arbeiterin zu?“ „Vier Monate“, antwortet die gefragte 22-Jährige im langen rot-gelben Gewand. Beifall von allen. In Körbchen liegen Seifenstückchen für die Siegerinnen.

Das Spiel ist Teil des Trainings für die Frauen, die auch lernen, sich zu artikulieren und dem Chef gegenüber selbstbewusst aufzutreten. An den Wänden hängen Poster, bunte Bilder und hilfreiche Parolen über die Rechte der Frauen, Schutz vor Diskriminierung, über Hygiene- und Sicherheitsstandards. Draußen hupen betagte Lastwagen und motorisierte Dreiräder. Unzählige Rikschafahrer strampeln klingelnd und gestikulierend durch das tägliche Verkehrschaos.

Immer wieder dringt das Lachen der Frauen in das schlichte Büro von Nazma Akter. Die Gründerin der Frauen-Treffs trägt ein Tuch über ihrem langen blauen Kleid, das den Kopf und eine Schulter freilässt. Etliche Städterinnen und Intellektuelle zeigen ihre Haare. Auf dem Land geht es viel konservativer zu.

Akter schmunzelt zustimmend, als sie einen neuen Namensvorschlag für das lehrreiche Spiel hört: „Boss don't worry“, „Boss ärgere Dich nicht“ – denn Akters Anhängerinnen kennen ihre Rechte. Die Powerfrau ist heute bekannt im Lande als Kämpferin für Frauenrechte und bessere Arbeitsbedingungen. Nun suchen viele Bosse das Gespräch mit ihr als Brückenbauerin und Vermittlerin. Die 39-Jährige ist auch Präsidentin der Sammilito Garment Sramik Federation, einer der vielen Zusammenschlüsse und Gewerkschaften der Branche.

Die Awaj Foundation und andere Aktivitäten der Frauen in der Bekleidungsindustrie werden auch von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag der Bundesregierung unterstützt. Das Programm zur Förderung von Sozial- und Umweltstandards in der Textilindustrie (PSES) bildet Trainer aus, finanziert Ausstattung der Büros, Kurse und Info-Abende.

„Wir helfen in Zusammenarbeit mit der Awaj Foundation mit, die Fabrikarbeiterinnen über ihre Arbeitsrechte aufzuklären“, erklärt GIZ-Programmleiter Magnus Schmid. „Wir schulen das Management der Fabriken und bilden staatliche Industrieinspektoren aus, die die Einhaltung der Sozialstandards überwachen sollen.“ Auch Großbritannien, Vereinte Nationen, EU und andere setzen sich im bitterarmen Bangladesch für faire Arbeitsbedingungen sowie eine nachhaltige Produktion mit mehr Sicherheit, weniger Umweltbelastung und weniger Energieverschwendung ein.

„Mit elf Jahren musste ich die Schule verlassen und in einer Textilfabrik arbeiten, um meine Familie zu unterstützen. Meine Mutter hat mich angelernt. Die Bedingungen waren schlimm, bis zu 14 Stunden Arbeit am Tag“, erzählt Nazma Akter bei einem Bummel durch eines der Armenviertel. Viele Menschen begrüßen sie herzlich.

Akter lernte in jungen Jahren Gleichgesinnte und Freunde in einer Gewerkschaft kennen. Sie sagt: „Ich habe nach einigen Jahren massiver Proteste gelernt, wie wichtig Kompromisse sind. Denn wenn eine Fabrik schließen muss, dann verlieren viele Menschen ihren Job.“

Einige höhere Häuser an der Straße ragen aus dem Armenviertel mit Hütten aus Holz, Wellblech und Planen. Zwei Gebäude gehören zu den über 4300 Fabriken der Bekleidungsindustrie in Bangladesch. Es gibt noch viele schwarze Schafe in der Branche, meist in kleineren, entlegenen Fabriken, wo Vorarbeiter Frauen schlagen und Kinder beschäftigt werden, was gesetzlich längst verboten ist. Kriminelle Arbeitgeber haben aber längst nicht mehr die Freiräume wie früher.

„Die Fortschritte für die Arbeiterinnen sind heute sichtbar. Frauen haben heute weniger Angst, kommen zu den Cafés und reden bei Gesetzesverstößen auch mit Rechtsanwälten, die für die Projekte arbeiten“, sagt GIZ-Mitarbeiterin Shatil Ara. Die 34-Jährige betont: „Die Importeure aus Deutschland, Italien, USA oder Großbritannien kennen nun den Imageschaden, wenn sie am Pranger der internationalen Presse stehen.“ Sie würden die Arbeitsbedingungen ihrer Lieferanten in Bangladesch jetzt häufiger inspizieren.

Ein Viertel weiter empfangen zwei Manager der M & M Shirts Limited Gäste zu einem Rundgang. Viele dieser mehrgeschossigen Fabriken sehen wie Büro- oder Wohnhäuser aus. Einer der Chefs zeigt die Notausgänge, bebilderte Hinweise für Notfälle, Verbandskasten und Feuerlöscher. Leitungen und Leuchten seien neu und energiesparend, sagte er.

„Natürlich ist es nicht überall so in unserem Land wie in diesem Betrieb“, sagt Shatil Ara. „Aber wir Frauen dringen verstärkt darauf, dass marode elektrische Kabel erneuert werden und es funktionierende Notausgänge gibt.“ Deutsche Firmen müssten ihre Produzenten endlich mehr kontrollieren. Nach dem jüngsten Großfeuer mit 112 Toten in einer Textilfabrik bei Dhaka, in der Ausgänge verschlossen waren, gab es auch international einen Proteststurm gegen skrupellose Methoden von Eigentümern und Managern.

Die 22-jährige Sapla Akter lebt in einem Slum in der Hafenstadt Chittagong und sagt: „Abends kann ich kaum meine Hände bewegen, mein Rücken schmerzt. Ich muss noch kochen, aufräumen, Trinkwasser schöpfen.“ Die Nachbarn haben einen Fernseher. „Da kann ich indische Filme anschauen, meine einzige Erholung.“ Aber sie sei froh, dass sie den Textiljob hat, sagt die 22-Jährige. Oft arbeiten die Frauen auch heute zehn Stunden und mehr. Laut Gesetz dürfen es in der Branche täglich nur acht plus maximal zwei Überstunden sein.

Lota Sriti ist jetzt Supervisor in einer Fabrik in Dhaka. „Das Training in den Frauengruppen hat mir gezeigt, dass ich Karriere machen kann. Mein Einkommen ist gestiegen, der Respekt für mich bei Freunden und in der Familie auch.“ Ein Manager der J. K. Group bestärkt seine Mitarbeiterinnen: „Es ist ermutigend, auch Frauen in verantwortlichen Jobs zu haben.“ Der Export von Bekleidung ist der mit Abstand wichtigste Devisenbringer Bangladeschs. Etwa 3,5 Millionen Beschäftigte zählt die Branche, etwa 80 Prozent Frauen.

Der Mindestlohn für ungelernte Arbeiterinnen beträgt 3000 Taka bei acht Stunden am Tag. Hinzu kommen meist Bonus und Überstunden, was sich auf 35 bis 40 Euro monatlich summiert. Das ist karg, aber doppelt so viel wie vor wenigen Jahren. Bis zu 120 Euro erhalten Frauen in höheren Positionen. Immer wieder gehen Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Rechte auf die Straße. Nicht immer bleibt es friedlich. Die Folge: brennende Barrikaden, brutaler Polizeieinsatz, Verletzte. Doch etliche Forderungen werden realisiert. Manche Gewerkschaften fordern nun 5000 Taka (50 Euro) Mindestlohn.

Bangladesch ist der drittgrößte Lieferant für Bekleidung in Europa. Deutschland spielt eine besonders wichtige Rolle: „Dieser Trend wird sich fortsetzen. Wir erleben auch eine Verlagerung der Produktion von China nach Bangladesch“, sagt Geschäftsführer Daniel Seidl von der Handelskammer Bangladesch-Deutschland in Dhaka.
Europäische Firmen sind seinen Worten nach „besonders aktiv geworden, um die sozialen Standards ihrer Produzenten in Bangladesch einzuhalten und mit einem ausgewählten Pool an Fabriken zusammenzuarbeiten.“

Viele Arbeiterinnen der Textilbranche verdienen heute mehr als ihre Ehemänner, die Lastenträger, Hilfsarbeiter oder arbeitslos sind. Die familiäre Ordnung in Bangladesch mit der Frau in der Wohnung bei den Kindern und dem Mann im Job bröckelt. „Auch der Mann muss an den Herd“, sagt Powerfrau Akter. „Meiner musste sich daran gewöhnen, dass ich wegen vieler Termine oft nicht zu Hause bin.“

Autor: Bernd Kubisch.
Der Artikel erschien zuerst am 8. Januar 2013 auf Spiegel Online.